Im Diätwahn - extreme Ernährungsformen bei Kindern

Entwicklung und Erziehung
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von Christine Kammerer
In Deutschland sind fast neun Prozent aller Minderjährigen im Alter von drei bis 17 Jahren übergewichtig und immerhin 6,3 Prozent von ihnen adipös. Gleichzeitig führt ein nach wie vor vollkommen überzogenes Bild vom idealen Körper in den Medien dazu, das viele Kinder und Jugendliche mit ihrem Gewicht unglücklich sind – selbst dann, wenn es vollkommen normal ist.
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In Deutschland sind fast neun Prozent aller Minderjährigen im Alter von drei bis 17 Jahren übergewichtig und immerhin 6,3 Prozent von ihnen adipös. Gleichzeitig führt ein nach wie vor vollkommen überzogenes Bild vom idealen Körper in den Medien dazu, das viele Kinder und Jugendliche mit ihrem Gewicht unglücklich sind – selbst dann, wenn es vollkommen normal ist. Beeinflusst von Idolen und Peer Groups machen sie oft schon schon im zarten Kindesalter erste Diät-Erfahrungen. Die Palette reicht dabei von Nahrungsverzicht bis hinzu höchst sonderbaren Ernährungsformen, die meist über Internet-Foren propagiert und kolportiert werden. Vielfach ist es eine Gratwanderung zwischen neugierigem Experimentieren und dem allmählichen Abdriften in gesundheitsgefährdende und somit unter Umständen selbst schädigende Verhaltensweisen. Denn hinter extremen Ernährungsformen können immer auch ernst zu nehmende psychische Probleme stecken.

Das Ende traditioneller Essrituale

Erwerbstätige Eltern und ihre schulpflichtigen Kinder haben immer häufiger unterschiedliche Zeitrhythmen. Das macht es schwer, gemeinsame Essenszeiten zu finden. Man isst entweder nacheinander statt miteinander oder, wenn gemeinsam, dann abends vor dem Fernseher. Mittags gibt es Vorgekochtes, in der Mikrowelle aufgewärmt, wahlweise Fertiggerichte vom Imbiss oder aus der Tiefkühltruhe. Abends mitunter nur Chips oder Pizza. Doch das Essen dient nicht nur der Nahrungsaufnahme. Die gemeinsame Mahlzeit ist ein soziales Ritual, das die Familie am Tisch vereint. Sie ist ein Ort der Kommunikation und der Entwicklung eines Gemeinschaftsgefühls - eines Gefühls der Zugehörigkeit. Kinder und Jugendliche empfinden das gemeinsame Essen allerdings meist irgendwann als lästige Verpflichtung, das ihre Medien-Zeit nur unnötig unterbricht. Auch die Regeln, die für das Essen selbst und bestimmte Nahrungsmittel galten, bewerten sie als Einengung oder Zwang. Vielen Heranwachsenden wäre es am liebsten, man würde sie beim Essen alleine lassen. Denn dann können sie die Regeln, die dabei gelten sollen, selbst bestimmen. Wenn sie dann allerdings wirklich vollkommen sich selbst überlassen werden, kann zu problematischen Entwicklungen führen.

Selbstbestimmt bei Tisch?

Wenn es Kindern freigestellt wird, sich ihr Essen nach eigenem Gutdünken zusammenzustellen, dann wird dabei immer in erster Linie der persönliche Geschmack ausschlaggebend sein. Einen großen Einfluss nehmen auch die Verheißungen und Ideale, die von den Medien vorgegeben werden. Diese Einflüsse von außen können in einer intakten Familienstruktur aufgefangen werden. Wenn jedoch gleichzeitig auch noch Probleme in der schulischen oder familiären Situation auftreten, kann das Essverhalten auf lange Sicht krankhafte Formen annehmen. Das ist zum Beispiel häufig dann der Fall, wenn Kinder in ihrem häuslichen Umfeld nicht genug Geborgenheit, Zuwendung und Anerkennung vorfinden. Sie sind auch gefährdet, wenn sie allzu großem Leistungsdruck ausgesetzt sind, es ihnen aber gleichzeitig an sozialen Kontakten fehlt und sie nicht die Möglichkeit haben, ihre Nöte und Sorgen zu kommunizieren. Dann ist Essen oft das einzige Machtmittel und gleichzeitig die einzige Ausdrucksform, die ihnen zur Verfügung stehen. Sie definieren sich verstärkt über das Verhältnis zum eigenen Körper, der ihnen als Mittel der Abgrenzung nach außen dient.

Die Suche nach Sicherheit und Geborgenheit

Kinder brauchen Regeln und Rituale. Geregelte Strukturen sind sozusagen der schmale Grat zwischen Einengung und Zwang auf der einen und Geborgenheit und Sicherheit auf der anderen Seite. Wenn Heranwachsende in ihrem Umfeld keine klaren Normen und Gesetzmäßigkeiten vorfinden, so entwickeln sie ihre eigenen Regeln. Diese folgen dann zwangsläufig nicht vernünftigen Erwachsenen-Mustern, sondern eben ihrer ganz eigenen kindlichen Logik. Darin gibt es keine Facetten und fließenden Übergänge, sondern eben nur schwarz oder weiß. Das Einteilen in gute und böse Nahrungsmittel, der Verzicht auf bestimmte Lebensmittel oder gar die Verweigerung von Essen vermittelt ihnen den Eindruck, dass sie selbst die Kontrolle über das eigene Leben und den eigenen Körper haben. Das Gefühl, wenigstens diesen Bereich kontrollieren zu können, verschafft ihnen Sicherheit. Und wenn es ihnen gelingt, die häufig sehr strikten Regeln zu befolgen, dann ist das mit Erfolgserlebnissen und Befriedigung verbunden. So entstehen rigide Verhaltensmuster bei der Ernährung wie Orthorexia nervosa, Anorexia nervosa (Magersucht) und diverse andere Essstörungen.

Im Diätenwahn: gutes und böses Essen

„Orthorexia nervosa“ kann man in etwa übersetzen mit dem Bedürfnis, das „Richtige“ zu essen, also sich gut und gesund zu ernähren. Die Sorge scheint angesichts zahlreicher Lebensmittelskandale durchaus nachvollziehbar, doch bei einigen Menschen und vor allem bei Heranwachsenden führt das mitunter regelrecht zu einer Besessenheit im Umgang mit Lebensmitteln. Denn was das „Richtige“ ist, ist schwer zu entscheiden, da viele Diäten und Ernährungsweisen genau das für sich in Anspruch nehmen. Das mündet oft in übertriebener Vorsicht und unangemessener Ängstlichkeit. Betroffene beschäftigen sich geradezu zwanghaft mit dem Thema gesundes Essen, eine Diät löst die andere ab. Die Angst, vom Essen zu dick oder krank zu werden führt schließlich zu einem krankhaftes Essverhalten und kann sich allmählich zu einer ernsthaften Störung entwickeln. Essen ist dann schon lange nicht mehr mit Genuss verbunden, sondern es werden nur noch die Bestandteile analysiert und in „gut“ und „böse“ aufgeteilt. Man entwickelt nicht nur gegenüber ganz bestimmten Produkten, sondern irgendwann auch gegenüber den Menschen, die diese essen, Ekelgefühle und, wenn man selbst einmal sündigt, auch gegen sich selbst. Die Betroffenen verlieren zunehmend den Realitätsbezug und bewerten zum Beispiel Lebensmittel wie Schokolade oder Fleisch nicht mehr objektiv, sondern verteufeln sie regelrecht.

Fazit: Kinder brauchen Regeln und Rituale

Der Medienkonsum gehört heute zur Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen. Deswegen ist es um so wichtiger, dafür zu sorgen, dass er nicht alle anderen Lebensbereiche überlagert. Das gilt sowohl im Hinblick auf die zeitliche wie auch inhaltliche Dimension: Der Medienkonsum sollte altersgemäß gestaltet und zeitlich begrenzt werden. Es ist auch notwendig, dass Eltern kontinuierlich mit ihren Kindern über die konsumierten Inhalte im Gespräch bleiben und diese unter Umständen auch kritisch beleuchten. Das gilt in ganz besonderer Weise für Werbebotschaften, die Kinder häufig noch nicht als solche erkennen können.

Auch sollte der Medienkonsum während der gemeinsamen Essenszeiten grundsätzlich verpönt sein. Familienzeit ist gemeinsame Zeit mit der Familie ohne Medien. Sie wird also nicht vor der Glotze verbracht und das Smartphone bei Tisch sollte ohnehin tabu sein. Natürlich sind die Eltern hier immer auch Vorbild ihrer Kinder. Es darf also selbstverständlich voraus gesetzt werden, dass sie sich ebenfalls strikt an diese Regeln halten. Das gilt auch für die Ernährung selbst: Was Eltern vorleben prägt Kinder nachhaltig. Deswegen sollte gesunde Ernährung mit einem vollwertigen Frühstück beginnen. Außerdem ist es sinnvoll, wenigstens eine Mahlzeit täglich gemeinsam einzunehmen. Das sorgt in der Familie für Gemeinschaftsgefühl und ermöglicht es allen Beteiligten, sich auszutauschen. Schön wäre es auch, wenn Familien es schaffen, zumindest gelegentlich miteinander zu kochen, damit die Kinder spielerisch mehr Bezug zu gesunden Nahrungsmitteln bekommen, das gemeinsame Erlebnis schätzen lernen und damit auch den Genuss am Essen vermittelt bekommen.

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Über den Autor/die Autorin
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Christine Kammerer, Politologin M. A., Heilpraktikerin (Psychotherapie), freie Journalistin und Trainerin. Berufliche Stationen: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Bundeszentrale für politische Bildung, Deutscher Kinderschutzbund.

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