Einzelkinder - Glücklich ohne Geschwister?

Entwicklung und Erziehung
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von Anna Bahr
Sie sind egoistisch und unsozial. Sie können nicht teilen und wollen immer im Mittelpunkt stehen. Seit jeher haben Einzelkinder mit Vorurteilen zu kämpfen. Doch Studien belegen: So schlecht ist es um geschwisterlose Kinder gar nicht bestellt.
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Sie sind egoistisch und unsozial. Sie können nicht teilen und wollen immer im Mittelpunkt stehen. Seit jeher haben Einzelkinder mit Vorurteilen zu kämpfen. Doch Studien belegen: So schlecht ist es um geschwisterlose Kinder gar nicht bestellt.

Als „typisch Einzelkind“ wird das Verhalten von geschwisterlosen Kindern oftmals beschrieben. Noch immer hält sich das Klischee hartnäckig, dass Einzelkinder von ihren Eltern verwöhnt und verhätschelt werden, dass sie altklug und besserwisserisch sind. Denn, so das Vorurteil, sie mussten sich nie mit ihren Geschwistern etwas teilen und standen ständig im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit . Dabei bildet die Ein-Kind-Familie schon lange keine Ausnahme mehr.

Wandel der Familienstruktur

Blickt man auf die Bevölkerungsstatistik des 20. Jahrhunderts kann man im Laufe der letzten Jahrzehnte den Trend zur Kleinfamilie erkennen. Durchschnittlich fünf Kinder lebten noch in einer deutschen Familie gegen Ende des 19. Jahrhunderts . Um 1945 waren es noch drei Kinder , die zu einem Haushalt gehörten. Im Jahr 1990 ist die Zahl bereits auf rund 1,4 Kinder pro Familie gesunken. Für das Jahr 2012 belegt das Statistische Bundesamt eine Geburtenziffer von 1,38 Kindern je Frau. Das bedeutet, dass 25% der deutschen Kinder ohne Geschwister aufwachsen.

Oft entscheiden sich Eltern bewusst für nur ein Kind . So ist es ihnen möglich, schneller wieder Anschluss im Job zu finden und an das alte - kinderlose - Leben wieder anzuknüpfen. Auch finanzielle Gründe beeinflussen die Entscheidung. Reisen, ein Haus, ein Auto - mit zwei oder mehr Kindern lassen sich diese Wünsche schwerer realisieren. Aber auch Scheidungen oder das immer höhere Alter der Mutter bei der Geburt spielen eine Rolle bei der Familienplanung.

Vom Vorteil und Nachteil, ein Einzelkind zu sein

Obwohl es in Deutschland immer mehr Ein-Kind-Familien gibt, müssen Einzelkinder immer noch gegen Vorurteile kämpfen, die aus einer anderen Zeit stammen. Noch vor gut 100 Jahren bezeichnete der amerikanische Psychologe Stanley Hall geschwisterlose Kinder als aggressiv und streitsüchtig . Auch der Wiener Psychotherapeut Alfred Adler ließ kein gutes Haar an Einzelkindern. Doch aktuelle Untersuchungen zeigen: Einzelkinder sind sozialer als der Volksmund behauptet . Bereits in den 1984 kam die amerikanische Sozialpsychologin Toni Falbo in ihrem Buch „The Single Child“ zu dem Schluss, dass Einzelkinder sich nicht wesentlich von Kindern mit Geschwistern unterscheiden . Sie stellte sogar Vorzüge von Einzelkindern heraus. So seien diese beispielsweise in den Bereichen Selbstbewusstsein und akademische Leistung im Vorteil .

In einer der großen Studie mit Daten von 150.000 Kindern und Erwachsenen weist auch die Soziologin Judith Blake 1989 unter anderem nach, dass Einzelkinder häufiger in Führungspositionen zu finden sind und in Intelligenztests besser abschneiden .

Von fehlenden Geschwistern

Ein häufig vorgebrachtes Argument gegen Einzelkinder ist, dass sie unsozial seien, weil sie nie gelernt hätten, mit ihren Geschwistern zu teilen oder sich mit ihnen zu streiten . Doch dieses Argument , betont Hartmut Kasten, Entwicklungspsychologe und Einzelkindforscher, sei längst überholt . In Zeiten, in denen Kinder bereits unter drei Jahren eine Krippe oder Tagespflegeeinrichtung besuchen, kommen Kinder bereits früh in Kontakt mit Gleichaltrigen . „In solchen Einrichtungen erleben sie das Zusammenleben mit Gleichaltrigen hautnah und täglich . Dabei schulen sie ihre sozialen Fähigkeiten und lernen auch abzugeben und zu teilen “, erklärt Kasten. Im Gegensatz zu den Kindern vor zwei bis drei Generationen, die meist im familiären Umfeld groß gezogen wurden, sind Einzelkinder heute in ihren Alltag nicht mehr isoliert . Der soziale Austausch in außerfamiliären Einrichtungen kann die fehlenden Geschwisterbeziehungen kompensieren.

Natürlich gibt es auch Nachteile, ohne Geschwister aufzuwachsen. Ohne einen Bruder oder eine Schwester hat das Einzelkind keinen Verbündeten, mit dem es sich gegen die Eltern wehren kann . Auch die Erwartungen an die schulischen, musikalischen oder sportlichen Leistungen der Eltern richten sich nur auf ein Kind . Sind zwei oder mehrere Kinder in der Familie kann sich jedes Kind seine Nische sichern und muss nicht in allen Bereichen die Erwartungen der Eltern erfüllen. „Überfrachten die Eltern ihr Kind mit Wünschen, Ansprüchen und Förderung, haben sie keinen Schutz, keine Unterstützung, zum Beispiel durch ein Geschwister. Und wenn's mal Streit gibt, stehen zwei Erwachsene einem Kind gegenüber - oder das Kind sitzt zwischen zwei Stühlen . Geschwister geben einander Rückendeckung, diese fehlt Einzelkindern zuweilen.“, bestätigt auch Kasten. Helfen kann eine stabile Freundschaftsbeziehung zu Gleichaltrigen . Hier kann das Kind von seinem Kummer erzählen oder seinem Frust Luft machen .

Tipps für Ein-Kind-Familien

Kinder brauchen Kinder , das betont auch immer wieder Einzelkindforscher Kasten. „Kinder sind füreinander wie ein Lebenselixier! Wenn Kindern der für ein gedeihliches Heranwachsen notwendige regelmäßige Umgang mit anderen Kindern verwehrt oder vorenthalten wird, ist Gefahr im Verzug.“ Egal ob Spiel-, Tanz-, Musik- oder Sportgruppen, Eltern sollten ihren Kindern den regelmäßigen Kontakt zu anderen Kindern ermöglichen . Hier können sie ihre sozialen Kompetenzen erweitern, sich ausprobieren oder einfach nur Spiele spielen, die Erwachsene nicht verstehen. Und: Solange Eltern ihre Kinder nicht mit Erwartungen überfordern , so Kasten weiter, entwickeln sich auch Kinder ohne Geschwister zu sozialen Erwachsenen.

Quellenangabe

» Statistisches Bundesamt
» Hartmut Kasten im Interview mit Kizz

Buchtipps

Blöchlinger, Brigitte : Lob des Einzelkindes: Das Ende aller Vorurteile . Krüger Verlag. 2008
Kasten, Hartmut: Einzelkinder und ihre Familien . Hogrefe-Verlag 2007
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Über den Autor/die Autorin

Anna Bahr hat an der Universität Leipzig ihr Germanistik- und Philosophiestudium abgeschlossen. Seit einigen Jahren arbeitet sie als freie Redakteurin. Ihre thematischen Schwerpunkte sind Kinder und Familie sowie Kunst und Kultur.

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