Zu wenig männliche Lehrkräfte – Werden Jungen in der Grundschule benachteiligt?

Entwicklung und Erziehung
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von Hildegard Dierks
„Frau K., Frau K. guck doch mal“, ruft ein Kind ihren Grundschullehrer. Der schnurbärtige Lehrer protestiert und erklärt, dass er doch wohl der Herr K. sei. Was für eine eigenartige Situation?
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„Frau K., Frau K. guck doch mal“, ruft ein Kind ihren Grundschullehrer. Der schnurbärtige Lehrer protestiert und erklärt, dass er doch wohl der Herr K. sei. Was für eine eigenartige Situation? In der Grundschule ist der Anteil an Lehrerinnen überwältigend und der Lapsus des Kindes könnte entsprechend nur eine all zu verräterische Fehlleistung sein. Immer wieder wird vor möglichen negativen Folgen einer sogenannten Feminisierung der Grundschule gewarnt, denn diese sei für Jungen von Nachteil.

Symptome der Benachteiligung?


Jungen gelten überdurchschnittlich häufig als überaktiv und zappelig, sind bewegungsstark, am Wettstreit orientiert und öfter nicht so leicht zu disziplinieren. Dies wird tendenziell in der Schule als störend oder krankhaft empfunden. Bei einem Vortrag an der Katholischen Hochschule Aachen im März 2012 bemängelte der psychoanalytisch ausgerichtete Kinder- und Jugendtherapeut Hopf, dass Jungen jährlich auf Grund ihres natürlichen hormonbedingten Verhaltens mit 1,3 Millionen Tabletten Ritalin (oft ohne therapeutische Begleitung) behandelt würden.

Jungen bleiben häufiger sitzen als Mädchen. Ihre Leseleistungen sind etwas schlechter als die der Mädchen. Jungen verlassen die Schule öfter als Mädchen gänzlich ohne Schulabschluss und erreichen seltener die allgemeine Hochschulreife. Mehr Mädchen als Jungen beginnen ein Hochschulstudium. Jungen werden vereinzelt, aber auf bedrückende Weise zu Amokläufern in Schulen und Schule wird ihr Ort „brutaler Abrechnung“.

Faktenlage und Überlegungen


Finden all diese Probleme ihren Ursprung darin, dass in der Grundschule überwiegend Frauen unterrichten? Sind Grundschullehrerinnen zu kleinlich mit „kleinen Rüpeln“, bewerten sie ihre Leistungen schlecht, geben sie ihnen zu wenig Orientierung, die sie akzeptieren können. Sind die gewählten Unterrichtsformen zum Beispiel Projektunterricht nicht gut für kleine Jungen?

Die Forschungslage ist dürftig und gibt häufig nur ungenaue Korrelationen wieder, die bekanntlich keinen Aufschluss über die tatsächliche Ursache für das Phänomen „schulisches Versagen von Jungen“ geben. Mädchen hatten in der Vergangenheit und haben heute oft tatsächlich bessere Noten. Heute haben sie im Gegensatz zu früher auch höhere Bildungsabschlüsse.

Die aktuelle Forschungslage erlaubt jedoch nicht den Schluss, dass die gute Dynamik der Mädchen auf Kosten der Jungen erfolgt. Die Forschungslage erlaubt ebenso nicht das Fazit, dass die unbestrittene zahlenmäßige Dominanz von Frauen in der Grundschule für Jungen nachteilig ist. Warum Jungen zu einem kleinen Prozentsatz stärkere schulische Probleme haben, ist nicht genau geklärt.

In der Bundesrepublik sind zwei wichtige Untersuchungen zu nennen: 1. Die Berliner ELEMENT-Studie von Helbig. 2. Eine Studie unter Berücksichtigung der Daten der IGLU-Studie von Helbig, Neugebauer und Landmann 2010. In beiden Studien wurde die kognitive Entwicklung der Kinder untersucht, nicht die allgemein psychologische Entwicklung. Was deutet sich an? Mädchen zeigen ein besseres Leseverständnis wenn an der Schule insgesamt mehr Lehrerinnen waren. Im Fach Mathematik hatten Jungen etwas bessere Noten, wenn an der Schule mehr Lehrer unterrichteten. Zurecht wird jedoch an der ELEMENT-Studie kritisiert, dass nicht genau erhoben wurde, welches Kind nun genau wie lange von einem Lehrer oder einer Lehrerin unterrichtet wurde.

Auch die auf den IGLU-Daten von 2010 basierende Studie erlaubt nicht den Schluss, dass Jungen oder Mädchen bessere Leistungen zeigen und bessere Noten haben, wenn sie von einer Lehrkraft des gleichen Geschlechts unterrichtet werden.

> Warum mehr Grundschullehrer?


Die Menschheit besteht aus Männern und Frauen und warum soll Grundschulunterricht fast ausschließlich Frauensache sein? Insbesondere mögliche Auswirkungen im nicht-kognitiven Bereich auf Grundschulkinder müssen noch genauer erforscht werden und können nicht ausgeschlossen werden.

Grundschullehrer geben den Kindern vermutlich oft andere Anreize als Lehrerinnen. Grundschulkinder sollten erleben dürfen, dass sowohl Männer wie Frauen sich um die Sorgen und Nöte und um Lernen von Kindern kümmern können und kümmern, denn das Vorbild wirkt nachhaltig auf Söhne und Töchter.

Oft fehlt es den Jungen aber auch den Mädchen darüber hinaus in den Familien an alltäglichen umfangreichen vorbildhaften Beziehungen mit Männern. Die Kinder, die nur mit einem Elternteil aufwachsen, wachsen fast immer mit der Mutter auf. Auch in vollständigen Familien ist die Zeit, die junge Kinder mit ihren Vätern verbringen, durchschnittlich immer noch eher gering, weil Väter in den meisten Fällen mehr arbeiten als Mütter.

Mehr Grundschullehrer hätten eventuell auch zur Folge, dass im Sachkundeunterricht der Schwerpunkt nicht so sehr auf Basteln und Biologie liegt sondern dass auch Technik und Physik Thema ist.

Mehr Lehrer in der Grundschule würden wahrscheinlich eine stärkere Lobby für eine bessere Bezahlung dieser wichtigen Berufstätigkeit zur Folge haben.

Jungenförderung in der aktuellen Bildungspolitik


Die bildungspolitischen Zeichen stehen auf Jungenförderung. Ein Teil dieser Förderung besteht in verschiedenen Motivationskampagnen von Jungen für Berufe in Kitas, der Bildungseinrichtung, die der Grundschule vorgeschaltet ist.

Aktuelles Beispiel ist die Kampagne „Starke Typen für starke Kinder“. Sie ist Teil des Modellprojekts „Mehr Männer in Kitas“, vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2011 ins Leben gerufen.

Um die Aufmerksamkeit von Jungen und männlichen Teenagern stärker auf Männer untypische Berufe zu lenken, bekommen Jungen seit April 2011 die Möglichkeit an Aktionen des Boys’ Days teilzunehmen. An diesem Tag laden Unternehmen, Einrichtungen und Schulen Schüler ab der 5. Klasse ein, Berufsfelder kennen zu lernen, die sie bisher nicht in Erwägung gezogen haben, zum Beispiel aus den Bereichen Erziehung, Pflege und Soziales.

Männer möchten Lehrer werden aber wenn, dann sehr selten für die Grundschule. Die Lehrerverbände sehen die mangelnde Attraktivität dieses Berufes für Männer in der relativ schlechten Vergütung und den unattraktiven Aufstiegsmöglichkeiten. LehrerInnen werden werden in der Regel nach A 12 bezahlt während Gymnasiallehrkräfte nach A13 bezahlt werden. Das bedeutet: Lehrerinnen und Lehrer an den Grundschulen verdienen ungefähr 400 Euro weniger im Monat als die Mehrheit der Lehrkräfte an Gymnasien. Lehrerverbände fordern hier eine deutliche Aufwertung mit dem Ziel einer vergleichbaren Vergütung.

Männerquote in der Grundschule – Warum nicht?


Zum Glück versagt nur ein geringer Prozentsatz von Jungen in unserem Schulsystem. Man kann also nicht von einer erheblichen Schulproblematik und Benachteiligung von Jungen aus welchen Gründen auch immer sprechen. Mädchen können von ihren guten schulischen Abschlüssen bedauerlicherweise oft nicht dauerhaft für ihr späteres berufliches Leben profitieren. Sie bleiben aus anderen Gründen außen vor oder unter ihren beruflichen Möglichkeiten. Eine aktuelle Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes zeigte aktuell beispielweise, dass Frauen von anonymisierten Bewerbungsverfahren profitieren. Frauen werden häufiger zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen, wenn dem potentiellen Arbeitsgeber ihr Geschlecht nicht bekannt ist.

Im öffentlichen Dienst gilt in der BRD eine relative Quotenregelung. In Bereichen, in denen Frauen unterrepräsentiert sind, werden bei gleicher Qualifikation Frauen bevorzugt bis eine bestimmte Frauenquote erreicht ist. Das sklavische Einhalten einer Quote bei Einstellungsverfahren birgt Probleme, dennoch könnte eine vorübergehende Männerquote bei der Einstellung von Grundschullehrern zur Folge haben, dass Lehrer in der Grundschule zum selbstständigen Erscheinungsbild werden. Das Erreichen einer Männerquote scheitert jedoch derzeit kläglich an einem Mangel an qualifizierten Bewerbern. Motivationskampagnen und die Schaffung attraktiverer Arbeitsbedingungen für den Beruf des Grundschullehrers sind deshalb das Gebot der Stunde, um hier eine Änderung herbeizuführen. Quereinsteiger nachzuschulen, nur um eine mögliche Männerquote in Grundschulen zu erfüllen, wäre nach allem was wir wissen eine nicht gerechtfertige Maßnahme.

Der geringen Präsenz von Männern im Leben unserer Kinder und mögliche psychische Auswirkungen könnte allerdings auch so begegnet werden, dass Väter sich mehr Zeit für ihre Söhne nehmen. Sie sollten die Zeit mit ihren Söhnen und Töchtern zur Chefsache machen, dann muss Schule nicht ausgleichen. Die gute Arbeit von Grundschullehrerinnen, an der am besten funktionierenden Gemeinschaftsschule der Bundesrepublik Deutschland, der Grundschule, würde nicht auf sonderbare Weise ausgerichtet an oberflächlichen Kriterien in Misskredit geraten.

Buchtipps


Wolfgang Bergmann Kleine Jungs, große Not Beltz Verlag 2010

Arne Hoffmann „Rettet unsere Söhne“. Pendo Verlag 2009

Linktipps


Grundschullehrer Tim berichtet über seine Arbeit. Informationen zu Aktionen am Boys’ Day am Beispiel des Berufs Grundschullehrer
http://www.boys-day.de/Ueber_den_Boys_Day/Boys_Day-Berufe/Alle_Beschreibungen/Grundschullehrer

Portal des deutschen Bildungsservers für alle, die Lehrer oder Lehrerin werden möchten
http://www.lehrer-werden.de/

Die Website des bundesweiten Netzwerks von Initiativen zur Berufswahl und Lebensplanung von Jungen
http://www.neue-wege-fuer-jungs.de/
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Themen:
Grundschullehrer
Männerquote
männliche Lehrkraft
Über den Autor/die Autorin

Hildegard Dierks arbeitet seit vielen Jahren als Online-Autorin und Online-Redakteurin für verschiedene Zielgruppen, z.B. Eltern. Zu ihren Themenschwerpunkten zählen alle Themen rund um Grundschule, Fremdsprachenlernen, Musikerziehung, computergestütztes Lernen aber auch schulpolitische Themen.

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