Pubertät und Sitzenbleiben

Entwicklung und Erziehung
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von Hildegard Dierks
Circa 20 % der Schülerinnen und Schüler bleiben im Laufe ihres Schülerlebens in der BRD einmal sitzen. Das wurde bereits vor mehr als 10 Jahren im Rahmen von PISA ermittelt. Ein beachtlicher Prozentsatz von Schülerinnen und Schülern zeigt am Ende eines Schuljahres also nicht die notwendigen Leistungen, um in die nächst höhere Klassenstufe aufzurücken.
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Circa 20 % der Schülerinnen und Schüler bleiben im Laufe ihres Schülerlebens in der BRD einmal sitzen. Das wurde bereits vor mehr als 10 Jahren im Rahmen von PISA ermittelt. Ein beachtlicher Prozentsatz von Schülerinnen und Schülern zeigt am Ende eines Schuljahres also nicht die notwendigen Leistungen, um in die nächst höhere Klassenstufe aufzurücken. Fast jeder kennt jemanden aus dem familiären Umfeld, der die sogenannte „Ehrenrunde“ absolvierte. Aber auch bekannte Persönlichkeiten, die im späteren Leben eine herausragende Karriere hatten, sind in der Schule sitzen geblieben. Viele Sitzenbleiber erwischt es in den Pubertätsjahren.

Verhalten und Veränderungen im Gehirn während der Pubertät

Das Gehirn verändert sich während der Pubertät. Das bleibt oft nicht ohne Auswirkungen auf die schulische Leistung. Außerdem kommen Schülerinnen und Schüler früher als vorherige Generationen in die Pubertät und müssen die damit verbundenen Herausforderungen meistern. Während der Pubertät wird das Gehirn sozusagen umgebaut. Nebeneffekte dieser Veränderungen sind Gefühlsschwankungen, impulsives Verhalten oder Verhalten, das Gefahren nicht richtig einschätzt. Während dieser Zeit kann es vermehrt zu Lernstörungen kommen. Ein bisher guter Schüler zeigt sich beispielsweise unmotiviert, unkonzentriert, in seiner Leistung schwankend oder leistungsmäßig deutlich verschlechtert. Die für das erfolgreiche Lernen wichtigen Sekundärtugenden lassen zu wünschen übrig.

Weitere körperliche Veränderungen kommen für Schülerinnen und Schüler während der Pubertät dazu. Sie werden individuell von den Schülerinnen und Schülern unterschiedlich problematisch wahrgenommen. Sind die Schulnoten schlecht und droht das Sitzenbleiben, so können die starken körperlichen Veränderungen, insbesondere der Umbau des Gehirns mit dafür verantwortlich sein.

Sich um Kontakt bemühen und Vorbild sein

In einem guten Kontakt mit dem auffälligen, pubertierenden Schüler zu bleiben aus dem Wissen heraus, dass das Verhalten mit der Pubertät zu tun haben kann, ist nicht immer ganz einfach. Nur über Gespräche und Kontaktbemühungen kann es jedoch gelingen, dass Schülerinnen und Schüler Hilfe annehmen bei schulischen Problemen, wenn es nötig ist.
Ob ein Schüler versetzt wird oder nicht, hängt nicht nur von den gezeigten Noten ab, sondern oft auch von den Möglichkeiten, die ein Schüler hat, das nächste Schuljahr in der nächst höheren Klassenstufe zu absolvieren. Diese Möglichkeiten eines Schülers sind Thema auf der Zeugniskonferenz, wenn es um die Versetzung geht. Ein Lehrer, der guten Kontakt zu einem leistungsschwachen, pubertierenden Schüler/einer pubertierenden Schülerin hat, wird diese pädagogisch motivierte Prognose leichter abgeben können und so seiner pädagogischen Aufgabe verantwortungsvoller gerecht werden können als ein Lehrer, der den schwierigen Schüler nicht gut kennt.

Lehrer und Eltern sollten als erwachsene Vorbilder im konstruktiven Problemlösen in dieser Zeit zur Verfügung stehen. Gerade während dieser Lebensphase benötigen Jugendliche diese Vorbilder. Vorbild sein ist eine diskretere Form der Einflussnahme auf Jugendliche als Salven expliziter Verbote und Gebote, die oft ablehnende Überreaktionen hervorrufen.

Vorbild sein heißt vor allem auch, sich nicht in die teilweise extremen Gefühlslagen der Pubertierenden hinein ziehen zu lassen. Das fordert gerade auch Lehrerinnen und Lehrern Einiges ab. Motiviert Unterrichten, wenn 1/3 der Schülerinnen und Schüler im Unterricht Desinteresse zur Schau stellen, ist schwierig.

Sitzenbleiben abschaffen?

Sitzenbleiben und Ehrenrunden drehen ist von je her ein Schülerschreckgespenst gewesen: Auf Betroffene wirkt es oft als Strafaktion, als eine Blamage. Immerhin muss der Schüler den gewohnten Klassenverband verlassen und sich mit jüngeren Schülerinnen und Schülern „abgeben“. Gerade für pubertierende Mädchen kann dies ein besonderes Problem darstellen, wenn sie - körperlich fast ausgereift - mit Jungen zusammen lernen, die eventuell erst gerade einmal in die Pubertät kommen und zwei Köpfe kleiner sind als sie.

Auf der anderen Seite ergab eine Forsa-Umfrage im Auftrag des Deutschen Philologenverbandes, dass 85% der Schülerinnen und Schüler gegen eine Abschaffung des Sitzenbleibens sind. Sie verstehen die „Ehrenrunde“ als Möglichkeit, Defizite in wichtigen Kernfächern auszugleichen und das Erreichen bestimmter Schulabschlüsse doch noch zu schaffen.

Befürworter des Sitzenbleibens erwidern den Gegner des Sitzenbleibens, dass man durch das Abschaffen des Sitzenbleibens nur Geld sparen wolle und keineswegs primär eine Förderung der Schüler im Sinn habe. Schülerinnen und Schüler mit erheblichen Schwierigkeiten würden alternativ zum Sitzenbleiben nur durch unzureichende, kostensparende Angebote wie „Nachhilfe“ gefördert. Es bestünde die Gefahr, dass mit dem Abschaffen des Sitzenbleibens und der reduzierten unzureichenden Förderung der problematischen Schülerinnen und Schüler immer mehr Jugendliche keinen Schulabschluss erreichen.

Lehrer sehen in der Möglichkeit des Sitzenbleibens eine intensive individuelle Förderung, die – zugegebener Maßen - im Vergleich zu anderen Förderkonzepten für die Länder teurer ist, weil qualifizierte Lehrer sich um die Sitzenbleiber kümmern. Befürworter des Sitzenbleibens sehen das Sitzenbleiben auch als Teil eines Anreizsystems, mit dem gerade auch ein pubertierender Schüler motiviert werden kann.

Sitzenbleiben verhindern?

Da Sitzenbleiben – ohne Frage – kein Allheilmittel gegen mangelnde schulische Leistungen und schlechte Noten ist, muss genauer auf die individuellen Förderungsmöglichkeiten eines Schülers/einer Schüler in der Pubertät geschaut werden. In der Pubertät nehmen die Einflussmöglichkeiten der Eltern ab und die Peergroup sowie Vorbilder außerhalb der Familie gewinnen an Bedeutung. Schülerprojekte, in denen die Schülerinnen und Schüler gemeinsam etwas „auf die Beine stellen“ sind deshalb besonders geeignet, um die Leistungsbereitschaft zu fördern. In der Pubertät stellt sich stärker als vorher die Frage, welche beruflichen Interessen ein Schüler verfolgt. Mit Blick auf eine zukünftige Berufstätigkeit kann bei einigen gefährdeten Schülern Motivation aufgebaut werden. Oft sind es nur kleine Erfolge oder kleine Schritte, in die richtige Richtung, die erzielt werden während dieser labilen Phase. Manche Schüler/Schülerinnen neigen zu Größenwahn und denken, dass sie alles bereits geschafft haben, bevor überhaupt irgendetwas passiert ist. Andere trauen sich fast gar nichts zu und sehen die eigenen kleinen Fortschritte nicht. Es ist Aufgabe von Lehrern und Eltern hier eine realistische Perspektive einzubringen.

In der Pubertät kommen auch Defizite, die in der Grundschule entstanden sind, stärker zum Tragen. In der Grundschule werden nicht selten schwerwiegende Leistungsdefizite nicht konsequent angegangen, z.B. Probleme mit der Rechtschreibung und den Grundrechenarten. Leistungsdefizite, die darauf zurückzuführen sind, können nicht auf die Pubertät „geschoben“ werden. In dieser Situation muss eindeutig etwas nachgeholt werden, was früher versäumt wurde.

In einigen Bundesländern können Eltern bestimmen, ob ihr Kind nach der Grundschulzeit zum Gymnasium gehen soll oder nicht. Nicht immer passt die von Eltern gewählte weiterführende Schulform für das Kind und die Fehlentscheidung wird während der Pubertät überdeutlich. Die neuen Schulformen, die ein längeres gemeinsames Lernen ermöglichen, schwächen allerdings die Gefahr des Sitzenbleibens während der Pubertät etwas ab. Bei den neuen Schulformen können einzelne Fächer/Kurse wiederholt werden oder ein Kurs mit einem anderen Schwierigkeitsgrad gewählt werden. Um Schulabschlüsse zu erreichen müssen allerdings auch bei den neuen Schulformen immer entsprechend vorgegebene Leistungsanforderungen erfüllt werden.

Eltern können sich auf Rat der Zeugniskonferenz bei schwachen Leistungen und anderer Probleme in der Pubertät des Schülers für eine freiwillige Nicht-Versetzung ihres Kindes entscheiden. Von dieser Möglichkeit machen Eltern allerdings nur selten Gebrauch. Das Image vom Sitzenbleiben ist einfach nicht das einer angemessenen Förderung eines leistungsschwachen Schülers sondern wird bei Eltern eher als notwendiges Übel gesehen.

Kommentar: Pubertieren und Schulerfolg: Beides ist möglich

Manche Schülerinnen und Schüler - zum Glück nur die Minderheit - katapultiert die Pubertät in einen regelrechten Ausnahmezustand, der sich so negativ auf die Schulleistung auswirkt, dass es am Ende zum Sitzenbleiben kommt. So gut wie nie ist die sog. Pubertät jedoch allein der Grund für eine „Ehrenrunde“. Fast immer kommen weitere Probleme hinzu z.B. viele krankheitsbedingte Fehltage, Überforderung, gravierende familiäre Probleme eines Schülers oder Mobbing in der Klasse, das nicht behoben werden konnte. Weiterkommen in die nächste Klasse kann auch eine Herausforderung für einen pubertierenden Schüler sein oder werden, die er oder sie noch im Endspurt absolviert. Das schafft Selbstbewusstsein und kann ein großer Schritt zum Erwachsenwerden sein. Bis es zum Sitzenbleiben kommt, ist es ein langer Weg und es gibt viele Möglichkeiten für Lehrer und Eltern positiv auf einen pubertierenden Schüler, eine pubertierende Schülerin einzuwirken. Immerhin ist die Pubertät eine Phase, die alle anderen auch meistern und Schülergenerationen vorher bereits ebenfalls gemeistert haben. Durch die Pubertät kommen ohne Sitzenbleiben ist in den meisten Fällen problemlos möglich. Die Spannbreite in der Reife während der Pubertät ist jedoch groß, so dass gerade während dieser Phase eines Schülerlebens die individuellen Förderkonzepte genau geprüft werden müssen und ausgefeilter sein müssen als sonst.

Will man die Sitzenbleiberquote senken, kann nicht an qualifiziertem Personal gespart werden: Die Arbeit hoch qualifizierter Lehrer kann nicht durch Hilfskräfte von Nachhilfeinstituten, die nachmittags in die Schule geholt werden, ersetzt werden.

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Über den Autor/die Autorin

Hildegard Dierks arbeitet seit vielen Jahren als Online-Autorin und Online-Redakteurin für verschiedene Zielgruppen, z.B. Eltern. Zu ihren Themenschwerpunkten zählen alle Themen rund um Grundschule, Fremdsprachenlernen, Musikerziehung, computergestütztes Lernen aber auch schulpolitische Themen.

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