Virtuelle Welten - technische, soziale und psychologische Aspekte

Entwicklung und Erziehung
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von Christine Kammerer
>Wir verwenden den Begriff „virtuell“ gemeinhin als Gegensatz zu „real“. Mit einer realen Umgebung meinen wir also die Lebenswelt, die uns im Alltag umgibt und die so natürlich existiert, wie die Personen und Objekte darin. Hier wird schon deutlich, wie schwer es ist, diese beiden Welten klar und eindeutig voneinander abzugrenzen, denn das ist heute kaum noch möglich. Reale und virtuelle Welten greifen immer mehr ineinander und verschmelzen miteinander. Diese virtuellen Welten haben manifeste Auswirkungen auf den einzelnen Menschen und auf die Gesellschaft, in der wir leben. Erschwerend kommt hinzu, dass Erwachsene trotz der fließenden Grenzen Virtuelles und Reales noch sehr viel besser trennen und die Unterschiede benennen können als Kinder. Diese unterscheiden beispielsweise kaum zwischen analogen Freundschaften und digitalen Bekanntschaften in der virtuellen Welt.
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Wir verwenden den Begriff „virtuell“ gemeinhin als Gegensatz zu „real“. Mit einer realen Umgebung meinen wir also die Lebenswelt, die uns im Alltag umgibt und die so natürlich existiert, wie die Personen und Objekte darin. Hier wird schon deutlich, wie schwer es ist, diese beiden Welten klar und eindeutig voneinander abzugrenzen, denn das ist heute kaum noch möglich. Reale und virtuelle Welten greifen immer mehr ineinander und verschmelzen miteinander. Diese virtuellen Welten haben manifeste Auswirkungen auf den einzelnen Menschen und auf die Gesellschaft, in der wir leben. Erschwerend kommt hinzu, dass Erwachsene trotz der fließenden Grenzen Virtuelles und Reales noch sehr viel besser trennen und die Unterschiede benennen können als Kinder. Diese unterscheiden beispielsweise kaum zwischen analogen Freundschaften und digitalen Bekanntschaften in der virtuellen Welt.

Virtuelle Welten und virtuelle Realität - Definitionen

Der Begriff „Virtuelle Realität“ (Virtual Reality, VR) wurde von Jaron Larnier Ende der 80er Jahre geprägt. Gemeint sind computergenerierte Erlebniswelten mit interaktiven Schnittstellen zwischen Mensch und Computer. Konkret handelt es sich dabei um alternative, virtuelle Welten, die aus computergenerierten Bildern erzeugt werden und auf menschliche Aktionen, beispielsweise auf Bewegungen, reagieren. Virtuelle Welten werden zwar künstlich erzeugt, erscheinen den meisten Nutzern jedoch überaus echt und sehr real. Und sie werden zunehmend realistischer. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, in diese simulierten Umgebungen einzutauchen und sie zu steuern. Sie reichen von der Tastatur am Computer-Display bis hin zu einem Equipment mit aufwändigem Datenanzug, stereophoner Videobrille und Glasfaser-Datenhandschuhen. Die Faszination Virtueller Welten besteht darin, dass sie sich durch die Manipulation der Nutzer verändern lassen. Zu den Definitionskriterien der VR gehört sowohl die Interaktivität als auch die Tatsache, dass die Umgebung vom Nutzer als räumlich und somit als „realistisch“ empfunden wird.

Virtuelle Welten, VR und Cyberspace – eine Begriffsklärung

Oft wird auch der Begriff „Cyberspace“ synonym zu VR und virtuellen Welten gebraucht. Es handelt sich um eine Wortschöpfung des Science-Fiction-Autors William Gibson in seinem Roman Neuromancer. Er charakterisiert damit ein virtuelles weltumspannendes Datennetz mit dem sich das zentrale Nervensystem von Menschen unmittelbar verbinden kann. Es funktioniert in etwa wie das Internet. Es ist daher genau wie dieses nicht nur einfach eine Schnittstelle zur Technik, sondern ein Lebensstil, eben eine virtuelle Welt, über den sich eine ganze Kultur definiert. Gibson‘s Roman war also durchaus visionär – er hat viele Entwicklungen vorweggenommen, die sich tatsächlich so oder so ähnlich aus den technischen Möglichkeiten ergeben haben. Auch der Begriff „Computersimulation“ gehört zu den gängigen Termini, wenn eigentlich Virtuelle Welten gemeint ist.

Virtuelle Welten - welche gibt es?

System Beschreibung Technologische Voraussetzungen
Desktop-VR Das Display zeigt eine dreidimensionale virtuelle Welt. Meist wird eine VR Brille benötigt. Desktop-PC, 3D-Brille für stereoskopisches Sehen
Spiegel-Systeme Nutzer sieht auf dem Bildschirm ein Abbild seiner selbst, das sich in einer virtuellen Welt bewegt. Desktop-PC
Fahrzeug-basierte Systeme Nutzer sitzt im Cockpit eines Fahrzeugs (Flugzeug, Auto, Raumschiff etc.) und steuert dieses in einer simulierten virtuellen Außenwelt. Reale Bewegungs-Wahrnehmungen können durch eine Bewegungsplattform nachempfunden werden. Displays und ggf. eine Bewegungsplattform, um die Außenwelt zu simulieren.
Cave-Systeme Im Gegensatz zu den drei zuvor beschriebenen Systemen bewegt sich der Nutzer im Raum, der mit großen Bildschirmen ausgestattet ist, um ein realistisches Gefühl der Raumwahrnehmung in einer virtuellen Welt zu erzeugen. Die Darstellung des virtuellen Raums erfolgt relativ zu seinen Bewegungen. 3D-Brillen verstärken den Raumeindruck. Große Bildschirme, 3D-Brillen
Immersive VR-Systeme Nutzer trägt einen Datenanzug mit Ein- und Ausgabegeräten, die eine Vielzahl von Sinnen ansprechen, Datenhandschuhe und eine 3D-Brille. So wird ein möglichst umfassendes Eintauchen in die virtuelle Welt bewirkt. Datenanzug, Datenhandschuhe, 3D-Brille
Augmented & Mixed Realities Ein spezielles Display überlagert computergenerierte 3D-Objekte mit den Bildern realer Welten, um eine virtuelle Welt zu generieren. Spezial-Display

Virtuelle Welten – Chancen und Risiken

Wie an den diversen Systemen bereits deutlich wird, haben VR-Anwendungen für das Betreten virtueller Welten eine ganze Reihe von Vorteilen: Sie erleichtern und bereichern das Leben, indem sie beispielsweise komplexe Vorgänge anschaulich machen und vereinfachen. Das kann im Rahmen von Lernumgebungen sinnvoll sein, aber auch in vielen anderen Bereichen: In der Industrie können heute die Kosten bei der Entwicklung und Herstellung vieler Produkte reduziert werden, indem die Produktion zunächst in einer virtuellen Welt simuliert wird und bereits vorab computergenerierte Modelle bestimmter Objekte entstehen. Flug-Simulatoren werden in der militärischen und zivilen Luftfahrt zu Trainingszwecken eingesetzt und auch medizinische Eingriffe können in virtuellen Welten erprobt und nachgestellt werden. Nichtsdestotrotz sind auch die Nachteile gravierend. Wir erleben derzeit regelmäßig, wie Menschen überall auf der Welt durch Fake News in die Irre geführt werden. Aber auch jene Technologien, die es ermöglichen in virtuelle Welten abzutauchen, sind gemessen an ihren medialen Möglichkeiten bisher unerreicht: Dabei werden mehrere Sinne gleichzeitig angesprochen wie Sehen, Hören und Fühlen. Das macht eine gezielte Manipulation unter Umständen noch gefährlicher. Wir können heute nur schwer erahnen, welche Auswirkungen das auf uns als Gesellschaft haben wird. Unbestritten sind aber heute bereits erhebliche Risiken von virtuellen Welten wie das Suchtpotenzial.

Flucht in virtuelle Welten

Wohl dosiert kann die Flucht in virtuelle Welten helfen, Spannungen die im Alltag entstehen, abzubauen und Sorgen zu vergessen. Immer häufiger führt der Hang zum Eskapismus allerdings schon bei Jugendlichen zur Sucht. Die virtuelle Welt hat auf den ersten Blick gewisse Vorzüge gegenüber der realen Welt: Sie lässt sich steuern, kontrollieren und manipulieren. Es ist also kein Wunder, dass sie eine starke Anziehungskraft besitzt, insbesondere für solche Menschen, die sich im wirklichen Leben schwach fühlen. Sie definieren ihre Person über das Erleben in der virtuellen Welt, das zunehmend ihr Selbstbild bestimmt. Sie erleben diese Fiktion als real und tun sich zunehmen schwer, sich in der natürlichen Umgebung zurechtzufinden. Das Bedürfnis, sich selbst als stark und unverwundbar zu erleben wird zur Abhängigkeit, der Sog der simulierten, virtuellen Welt wird immer größer. Die reale Welt wird zunehmend als unattraktiv empfunden. Das führt zur Vernachlässigung echter sozialer Kontakte, aber auch von ganz alltäglichen Dingen wie Essen, Arbeiten etc.

Die Ergebnisse seriöser Studien in Bezug auf das Kommunikationsverhalten von Kindern und Jugendlichen sind schon heute teilweise besorgniserregend: Bereits Kinder im Vorschulalter nutzen Mobilgeräte, Teenager ziehen die virtuellen Welten oft der realen vor und daddeln lieber auf dem Smartphone als draußen zu spielen. Immerhin acht Prozent der Kinder und Jugendlichen gelten inzwischen als süchtig.

Fazit: Virtuelle Welten als gesellschaftliche Herausforderung

Der Ingenieur Raimund Glitz nannte virtuelle Welten schon 1994 eine Wunscherfüllungsmaschine. Sie kann Reize, die in der realen Welt sehr selten oder sogar einmalig sind, beliebig oft simulieren. Das macht sie tendenziell zu einem Suchtmittel der ganz besonderen Art. Und es bestehen weitere, heute noch kaum erforschte oder überhaupt diskutierte Risiken: Wir müssen wie bei jeder digitalen Technologie davon ausgehen, dass in nicht allzu ferner Zukunft jeder ohne viel technisches Know-How virtuelle Welten selbst erschaffen kann. Auf diese Weise können sich äußerst realistisch wirkende Scheinwirklichkeiten völlig unkontrolliert verbreiten. Niemand kann dann noch nachvollziehen, wer diese Räume besucht, wie die Nutzer dort mit der vorgefundenen, virtuellen Welt interagieren und welche Lernprozesse sie von dort mit in die reale Welt bringen. Wir sollten uns außerdem darauf gefasst machen, dass Google, Facebook & Co. auch vor virtuellen Welten zur Analyse von Bewegungsmustern im virtuellen Raum. Damit müssen wir uns heute schon auseinandersetzen und unsere Standpunkte dringend neu definieren, damit wir nicht wieder einmal von den Folgen einer Neuen Technologie überholt werden und mit notwendigen Maßnahmen zur Regulierung weit hinterherhinken.

Links

Internet und Psychologie - Neue Medien in der Psychologie, Hg.: Bernad Batinic, Bd. 5: Virtuelle Realitäten

Birgit Lohmann, Philipp Ladwig: Reflexion über die Bedeutung virtueller Welten für den Menschen

Digitale Kindheit. Verloren im Virtuellen

Realität und Fiktion in den Medien: Modul 3 – Realität und Fiktion im Internet (Unterrichtsmaterialien)

William Gibson – Neuromancer

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Über den Autor/die Autorin
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Christine Kammerer, Politologin M. A., Heilpraktikerin (Psychotherapie), freie Journalistin und Trainerin. Berufliche Stationen: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Bundeszentrale für politische Bildung, Deutscher Kinderschutzbund.

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