ADHS â nehmen VerhaltensauffĂ€lligkeiten an Schulen wirklich zu?
ADHS â nehmen VerhaltensauffĂ€lligkeiten an Schulen wirklich zu?
WĂ€chst in Deutschland tatsĂ€chlich eine âGeneration ADHSâ heran, wie die Barmer GEK zugespitzt formuliert, oder sehen nur viel zu viele Eltern und Lehrer in ADHS und der Verordnung von Ritalin eine einfache Lösung fĂŒr ihre eigenen Probleme?
In den USA liegen mittlerweile Studien vor, die belegen, dass viele Kinder ohne echte Notwendigkeit wegen ADHS behandelt werden. Sie verhielten sich schlichtweg nicht so, wie es von ihnen erwartet wurde, legten aber mit ihrem Verhalten lediglich die Anzeichen einer ganz normalen und altersgemĂ€Ăen Unreife an den Tag.
Daten und Fakten zu ADHS
ADHS gilt heute als hĂ€ufigste psychiatrische Erkrankung bei Kindern und Jugendlichen. Es handelt sich dabei um eine Entwicklungsstörung, deren Symptome bei den Betroffenen mehrere Lebensbereiche deutlich beeintrĂ€chtigen oder zu einem erkennbarem Leiden fĂŒhren. Jungen sind deutlich hĂ€ufiger betroffen als MĂ€dchen.
Die Barmer GEK stellte in ihrem Arztreport 2013 fest, dass sich die Diagnosen bei Kindern und Jugendlichen bis 19 Jahre zwischen 2006 und 2011 um 42 Prozent erhöht haben. Unter ADHS leiden demnach mit einem Alter von zehn Jahren etwa zwölf Prozent der Jungen und 4,4 Prozent der MĂ€dchen an einer âAufmerksamkeitsdefizit-/ HyperaktivitĂ€tsstörungâ (ADS bzw. ADHS). Die Diagnose wird meist im neunten Lebensjahr gestellt und hĂ€ufig medikamentös behandelt: Fast sieben Prozent der elfjĂ€hrigen Jungen und zwei Prozent der MĂ€dchen nehmen Medikamente mit Methylphenidat, besser bekannt unter dem Handelsnamen âRitalinâ. Die Verordnungsraten von Methylphenidat, sind zwischen 2006 und 2011 deutlich gestiegen, die höchsten Verordnungsraten finden sich im Alter von elf Jahren. Seit 2010 gehen die Verordnungsraten jedoch erstmals wieder zurĂŒck.
Risikofaktoren fĂŒr eine Diagnose
ADHS kann sowohl auf erbliche Anlagen als auch auf Ursachen im sozialen Umfeld zurĂŒckgefĂŒhrt werden. Auch einige Schadstoffe wie PCB können das Risiko einer Erkrankung erhöhen. In einer Studie des Instituts fĂŒr Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitssystemforschung (ISEG) in Hannover ermittelten die Wissenschaftler nun erstmals auch einige elternabhĂ€ngige Faktoren, die das Risiko fĂŒr eine ADHS-Diagnose und die Verordnung von Ritalin bei Kindern beeinflussen. So sinkt das Risiko einer ADHS-Erkrankung mit zunehmendem Bildungsgrad der Eltern. Risiko-Faktoren sind dagegen die Erwartungshaltung der Eltern sowie Erziehungsprobleme. Das Risiko ist zudem um so höher, je jĂŒnger die Eltern sind â vermutlich aufgrund der Ăberforderung junger MĂŒtter und VĂ€ter.
Viele Fehldiagnosen
Viele Kinder, die sehr aktiv und laut sind, nur ungern ruhig sitzen, sondern lieber herumtoben, sich nicht sofort fĂŒgen, sondern Widerstand leisten heute nicht selten mit der Diagnose ADHS und Ritalin ruhig gestellt. Dies entspricht den Ergebnissen jĂŒngster Studien aus den USA, die ebenfalls zu dem Ergebnis kommen, dass vielen Kindern fĂ€lschlicherweise ADHS diagnostiziert wird. Eine Studie der UniversitĂ€t Michigan aus dem Jahr 2010 ergab, dass eine Vielzahl der Kinder, die die Diagnose ADHS erhalten hatten, einfach nur langsamer und in ihrer Entwicklung nicht soweit fortgeschritten waren wie die meisten ihrer Altersgenossen. Sie verhielten sich auffĂ€llig und aggressiver, doch dies seien hĂ€ufig nur die Reaktionen auf das von ihnen empfundene MissverhĂ€ltnis zwischen der eigenen LeistungsfĂ€higkeit und dem, was ihnen abverlangt werde. Der Chefarzt der Helios-Klinik fĂŒr Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Berlin-Buch RĂŒdiger Stier sagt: âBei bis zu einem Drittel der FĂ€lle, in denen Kinder mit der Diagnose ADHS vom Kinderarzt zu uns kommen, halten die Diagnosen der ĂberprĂŒfung nicht stand. Ein Problem besteht schon, aber es ist eben nicht ADHS.â Es handele sich oft um Symptome, die aufgrund von Ăberforderungen auftrĂ€ten, oder auch um Folgen erzieherischer Defizite.
Ob ein Kind tatsĂ€chlich an ADHS leidet kann nur ein Facharzt diagnostizieren, doch gerade da kommt es offenbar hĂ€ufig zu Fehldiagnosen, unter anderem, weil die Ărzte zu wenig Zeit fĂŒr ihre Patienten aufbringen könnten und es ihnen meist an âTiefenkompetenzâ beim Krankheitsbild ADHS fehlt, so Stier.
Störungen werden aufmerksamer wahrgenommen
Bemerkenswert sind auch einige regionale Unterschiede: WĂ€hrend die ADHS-Diagnoserate im Jahr 2011 im Bundesdurchschnitt bei Jungen im Alter von zehn bis zwölf Jahren bei knapp 12 Prozent lag, gibt es in Unterfranken mit 18,8 Prozent eine auffĂ€llige HĂ€ufung an Diagnosen und Ritalin-Verordnungen. Das fĂŒhren die Forscher auf eine ârelativ gut ausgebauten Versorgung im Hinblick auf niedergelassene Ă€rztliche Kinder- und Jugendpsychiaterâ zurĂŒck. Die hohe Diagnoserate kann also auch darauf zurĂŒck zu fĂŒhren sein, âdass Eltern, Lehrer und Ărzte sehr viel aufmerksamer geworden sind und deshalb heute Störungen wahrgenommen werden, die man frĂŒher schlicht ĂŒbersehen hat", so Kai von Klitzing, Direktor der Leipziger Uniklinik fĂŒr Kinder- und Jugendpsychiatrie.
Fazit: Stigmatisierung vermeiden!
Bis vor kurzem war ein temperamentvolles Kind schlicht ein âZappelphilippâ und man vertraute darauf, dass sich das Verhalten mit der Zeit von selbst regulieren wĂŒrde, was auch meistens der Fall war. Heute bekommt das gleiche Kind das Etikett âADHSâ und das ist durchaus eine bedenkliche Entwicklung, denn es ist sicherlich problematisch, das Verhalten eines Kindes vorschnell zu pathologisieren und es so zu stigmatisieren, denn immerhin klassifiziert die Diagnose dieses Kind fortan als âpsychisch krankâ. Die PĂ€dagogin und Familienberaterin Katharina Saalfrank meint dazu: âDas Besondere von Menschen wird so oft nicht gesehen beziehungsweise als störend empfunden, weil sie nicht der Norm entsprechen. Wir haben unseren Fokus auf das, was ânormalâ ist, stark eingeengt und sind auf Schablonenkinder und Kategorien fixiert.â
Links
- ADHS/ADS
- Barmer GEK Arztreport 2013:
- US-Studie untersucht ADHS-Kinder - Viele Fehldiagnosen befĂŒrchtet
- Jeder fĂŒnfte Junge ist verhaltensauffĂ€llig
Christine Kammerer, Politologin M. A., Heilpraktikerin (Psychotherapie), freie Journalistin und Trainerin. Berufliche Stationen: Bundesamt fĂŒr Migration und FlĂŒchtlinge, Bundeszentrale fĂŒr politische Bildung, Deutscher Kinderschutzbund.